1923
Am 24. März schloß das Schuljahr. 7 Kinder wurden eingesegnet. 4 kleine Kinder traten neu ein. Die Schülerzahl beträgt jetzt 44 und zwar 25 Knaben und 19 Mädchen. Im Laufe des Sommers vermehrte sich die Schülerzahl um die Ruhrkinder [54]. Heinrich Rölleke aus Lünen bei Herrn Stocks, Helmut Werner aus Dortmund bei Herrn Reimer und Williy Hausherr aus Lünen bei Herrn Köhler Bredeneek.Trotz der schlimmen Zeit wünschen die Eltern der Schulkinder ein Kinderfest. Es ist dann auch wie in früheren Jahren abgehalten. Im kommenden Jahr ist man wohl nicht mehr in der Lage. Die Zeiten werden immer schlechter. Mein Sohn sagte: Die kommenden Geschlechter, die ungefähr 100 Jahre später leben, werden uns beneiden wegen der großen Zeit, die wir durchlebt haben. Nun, es sei ihnen gesagt, daß es wahrlich kein Glück ist und keine Freude, diese Zeit zu erleben.
Erstens die Sorge um das Vaterland, welches von Frankreich gedemütigt und ausgesogen wird bis zum Weißbluten [55]. Zweitens die Not um das tägliche Brot. Fast jeden Tage fehlen mehrere Kinder, um Kartoffel u. Holz zu lesen. Kartoffeln von den Feldern zu holen, die schon abgeerntet sind.
Die allergrößte Not ist noch die Kleidung. Womit sollen wir uns kleiden ? Ich weiß, viele Kinder haben kein Hemd an, Schuhzeug sich anschaffen ist ein Stück der Unmöglichkeit. Hoffentlich sehen unsere Kinder und Kindeskinder ein freies und glückliches Deutschland. Jetzt, im Jahre 1923, 5 Jahre nach dem Schandfrieden von Versailles, ist noch gar keine Aussicht auf bessere Zeiten. Alle Deutsche, welche nur noch daran denken sollten, dem Vaterlande zu helfen, bekämpfen sich gegenseitig. Die stellen die Partei über das Vaterland. In vielen Städten herrscht Aufruhr. Junge Burschen, die sogenannten Halbstarken, plündern Bäcker, Tuch- u. Kaufmannsläden. Wie glücklich waren wir, als noch ein schlagfertiges Heer Deutschland schützte. Aber bei Beendigung des Krieges da träumten viele Führer einer bekannten Partei von Volksversöhnung u. Volksverbrüderung. Diesen Traum haben sie nun wohl ausgeträumt. Sie wagen es aber nicht zu sagen. Noch nie ist der Völkerhaß größer gewesen, wie jetzt.
[54]
Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden bedürftige und gesundheitlich gefährdete Stadtkinder zu
Erholungsaufenthalten in Pflegestellen aufs Land geschickt. Regional taucht schon damals vereinzelt die Bezeichnung „Kinderlandverschickung“ auf. Ab 1916 koordinierte eine „Reichszentrale Landaufenthalt für Stadtkinder“ mehrwöchige Ferienaufenthalte. 1923 wurden 488.000 Kinder verschickt.
Quelle: Wikipedia
[55] bis zum Weißbluten: bis zum Erblassen verbluten.
Die alte Dorfschule von Wakendorf